Die andere Freiheit – Romananfang

Mattheo flehte zu Gott, dieser Tag möge schnell vorübergehen. Er legte seinen Autoschlüssel im Flur ab und drängte sich an einer Menschentraube vorbei in seine Küche. Mit einer Flasche Bier in der Hand beeilte er sich, wieder nach draußen zu kommen. Er setzte sich auf die morsche Bank unter dem riesigen Nussbaum vor der Eingangstür. Er sah sich um. Der Baum brauchte dringend einen Schnitt, bevor ein alter Ast herunterbrechen und jemanden erschlagen würde.

   Auch hier standen die Mitarbeiter dieser Agentur herum. Sie sollten ein Werbevideo für den Hof drehen. Mattheo folgte den Blicken der Leute. Er sah die golden schimmernden Felder, die sie so bewunderten. Er sah den blauen Himmel und die sattgrünen Wiesen. All das sah er, konnte aber nicht nachvollziehen, warum alle so übertrieben gestikulierten und so tief einatmeten, als wollten sie gleich einen Tauchwettbewerb gewinnen.

    Daneben stand Kristina, die ganz in ihrer Auftraggeberrolle aufging. Gerade beriet sie sich mit dem Filmteam über die Anordnung der Strohballen, die sie auf die Wiese hinter dem Haus getragen hatten. Auf einem der Strohballen sollte Mattheo später sitzen und seinen Text aufsagen. Dass er überhaupt zugesagt hatte, war seiner Entscheidungsschwäche geschuldet. Genau genommen hatte er gar nicht richtig zugesagt. Wenn er nicht Ja, aber auch nicht Nein sagen wollte, übernahm das meistens Kristina. So war es auch, als sie zu ihm auf den Hof gezogen war. Er hatte nichts dagegen gehabt, nur den Verlust seiner freien Zeiteinteilung gefürchtet. Das hatte er ihr aber nicht sagen können, also wohnte sie jetzt hier und teilte seine Zeit ein.

 

«Mattheo, können wir?», rief die Produktionsassistentin, die im Laufschritt an ihm vorbeihuschte. Sie drehte sich zu ihm um, und während sie rückwärts weiterlief, deutete sie mit dem Daumen hinter sich, wo jetzt die Strohballen zu einer Art Sofa zusammengesetzt wurden. Mattheo stand seufzend von seiner morschen Bank auf und stellte die Bierflasche ab.

    «Kann losgehen. Ich hoffe nur, ich hab’ jetzt kein Blackout», sagte er und steuerte auf das Strohballensofa zu.

    «Sehr lustig, du musstest dir nur einen Satz merken», lachte die Produktionsassistentin, noch immer rückwärts vor ihm herlaufend.

 

***

 

Drei Tage später hatte Mattheo eine E-Mail mit dem Link zum Videodownload in seinem Posteingang. Wie erwartet fand er alles furchtbar klischeehaft und sich selbst stinklangweilig. Kristina dagegen war begeistert.

    «Es ist perfekt, genau das wollen die Leute doch sehen! Komm, lass es nochmal laufen.»

    Mattheo drückte den Play-Button.

 

Der Film startet mit einer Luftaufnahme. Man sieht den schmalen Weg, der durch das Dorf nach oben führt, einen Traktor, wie er den Weg entlangfährt, die Wiesen ringsum. Fröhliche Musik begleitet fröhliche Menschen bei der Heuernte, beim Konfitüre machen und beim Brotbacken. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern erlebt emotionale Momente in der Natur und mit den Tieren auf dem Hof. Ein großer gedeckter Tisch im Freien mit lachenden Gesichtern drum herum. Dazwischen immer wieder Mattheo. Bei der Arbeit mit der Sense, beim Saubermachen einer Pferdebox, beim Melken der Kühe, beim Schließen der Stalltür. Dann, wie er nach getaner Arbeit auf einem Strohballensofa sitzt. Er nimmt einen dunkelroten Apfel aus einem Korb und riecht daran. Ein etwa zehnjähriges Mädchen mit dunklen, strubbeligen Haaren und Latzhose löst sich von der Menschengruppe im Hintergrund, kommt auf ihn zu und setzt sich zu ihm aufs Sofa. Mit schelmischer Freude nimmt sie Mattheo den Apfel aus der Hand und beißt hinein. Die Musik stoppt abrupt. Man hört das Knacken des Fruchtfleisches und ein Schlürfen, mit dem das Mädchen einen Teil des Saftes einsaugt. Der größere Teil rinnt ihr über das Kinn, das sie kurz darauf an Mattheos kariertem Hemdärmel abwischt. Mattheo lächelt etwas schief in die Kamera und sagt seinen Satz: «Für meine Gäste gebe ich mein letztes Hemd.» Die Musik setzt wieder ein, die Kamera macht einen Schwenk zu der Runde am Tisch, entfernt sich nach oben. Man sieht den Hof und die Umgebung nun wieder aus der Vogelperspektive. Das Hof-Logo mit Internetadresse und der Slogan «Genussurlaub auf dem Baldaufhof» schieben sich ins Bild. Ende.

 

«Was für ein gutaussehender Landwirt», fand Kristina, und schlang ihre Arme von hinten um Mattheo. Der starrte noch immer gedankenverloren auf das Standbild auf seinem Notebook.

    «Wenn das Video erstmal auf dem Portal läuft, dann rennen uns die Leute die Türen ein!»

    «Ja», sagte Mattheo und holte tief Luft. Er dachte an seine Platzangst, die ihn überkam, wenn zu viele Menschen im Haus waren.

    «Und Laura hat ihren Part auch super gemacht, ich wusste gar nicht, dass deine Nichte ein schauspielerisches Talent hat. Ich fand sie entzückend. Wir sollten sie und ihre Mama mal zu uns einladen.»

    «Meine Schwester kommt nicht gern auf den Hof, das weißt du doch.» Mattheo bemühte sich, nicht gereizt zu klingen. Die ständigen Bemühungen seiner Freundin, ihn und Elisabeth zusammenzubringen, gingen ihm auf die Nerven. Sie wollte etwas reparieren, was keiner Reparatur bedurfte.

   Mattheo wartete darauf, dass das Gespräch nun wieder in eine Richtung ging, die ihm noch weniger behagte als die Marketingfrage. Für Kristina gab es kein Gesprächsthema, das man nicht dazu benutzen konnte, ihn, Mattheo, darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig der familiäre Zusammenhalt für den Hof sei. Und von seiner schwierigen Familie war es für sie ein Kinderspiel, auf die emotionalen Hintergründe überzuleiten. Doch heute sagte sie nichts. Und auch er blieb stumm. Dabei hätte er Wichtiges zu sagen. Aber er konnte nicht. Noch nicht. Er schaute ihr ins traurige Gesicht und küsste sie auf die Wange, bevor er wieder nach draußen ging, um nach dem frisch betonierten Boden im Schweinestall zu sehen.

 

***

 

Die unversehrt glatte Betonoberfläche überraschte Mattheo. Mit Zwischenfällen in Form von Pfoten- oder Körperabdrucken war eigentlich immer zu rechnen, wenn es auf dem Hof ein Bauprojekt gab. Einmal musste er seinen Hund Charly aus dem schon angetrockneten Beton im neuen Schweinestall-Anbau befreien. Der Jack Russel Terrier musste sich auf akrobatische Weise über die Absperrung geschwungen haben. Er hatte halb auf der Seite gelegen und vertrauensvoll auf Mattheo gewartet, der ihn aus der misslichen Lage befreite und ihm notdürftig das mit Beton verklebte Fell stutzte. Das Vertrauen seiner Tiere in ihn, ihren Menschen, rührte Mattheo. Vielleicht war ja der Mensch für die Tiere das, was Gott für den Menschen war. Nur, dass die Tiere ihren Gott nicht hinterfragten.

    Zum Füttern der Schweine musste er nur ein paar Knöpfe an der neuen Futtermaschine drücken. Er hatte drei verschiedene Mischungen zusammengestellt. Eine für die Muttersäue, die jetzt besonders fettreiche Kost brauchten, eine für die Eber und eine für die kranken Tiere. Das Mischen ging auch automatisch. Die Futtertanks der Maschine waren mit den Silos verbunden, in denen Mais, Hafer, Weizen und Roggen lagerte, und am Computer definierte man anhand von ausgeklügelten Tabellen die gewünschten Futtermischungen aufs Gramm genau. Überhaupt gab es für fast jeden Arbeitsschritt ein Gerät. Mattheo fühlte sich an manchen Tagen nicht mehr wie ein Landwirt, sondern eher wie ein Maschinenführer. Dabei gab es an der Modernisierung objektiv gesehen nichts auszusetzen, vieles wurde tatsächlich einfacher. Aber die Entscheidung lag inzwischen nicht mehr beim einzelnen Bauern. Es gab einen regelrechten Zwang zur Automatisierung, weil die Vorschriften und Gütesiegel immer mehr, die Kontrolleure immer strenger und die Handelsketten immer größer wurden. Später, während er die Absperrgitter zurück in den Schuppen trug, stellte er sich vor, wie er das alles hinter sich ließ.

 

***

 

Als er zurück ins Haus kam, war Kristina gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten. Sie nahm ein Holzbrett aus der Küchenschublade und platzierte darauf einen Riesenzucchino, den sie umständlich in Stücke schnitt. Mattheo stellte sich neben sie und fing an, die Salatblätter zu waschen, die in einer Schüssel neben der Spüle lagen.

   «Ich habe mit der Agentur telefoniert. Wenn wir wollen, ist das Video ab morgen online», sagte Kristina, während sie einige Kräuter hackte.

   Mattheo stöhnte leise.

    «Was? Du hattest doch keine Einwände?

    «Nicht direkt.»

    Kristina wischte sich die Hände ab und warf das Küchentuch neben sich auf die Anrichte. «Mattheo, ich versuche Geld reinzubringen, damit wir hier eine Zukunft haben, und dich nervt einfach alles! Hast du denn eine bessere Idee, wie wir die Schulden loswerden sollen? Rede mit mir!» Sie drehte sich um und hantierte an der Küchenmaschine, während ihr die Tränen in die Augen schossen.

    Matteo sah es, aber er wandte sich ab und schlurfte Richtung Küchentür. «Ich geh noch mal raus.»

 

***

 

Er machte die Haustür leise hinter sich zu und setzte sich auf seine Bank. Er holte eine viel zu warme Flasche Bier aus dem Kasten, der darunter stand. Dann griff er nach dem Öffner, der an seinem Schlüsselbund hing. Das alles ging ihm viel zu schnell. Erst vor Kurzem hatte Kristina die Betreuung der Zimmergäste übernommen. Sie hatte Fotos auf ein Buchungsportal gestellt, ein eigenes Bankkonto eröffnet und in Eigenregie eine Internetseite angelegt. Mit den ersten zusätzlichen Einnahmen hatte sie neues Bettzeug angeschafft, Fernsehgeräte aufgestellt und WLAN installieren lassen. Ihr Tatendrang hatte zunächst auch auf Mattheo abgefärbt. Sein Hochgefühl war aber bald in Panik umgeschlagen. Die ruhigen Phasen, in denen wenige oder gar keine Gäste da waren, wurden immer kürzer. Sein Blick wanderte ins Tal, wo jetzt langsam die Lichter angingen.

 

***

 

Giuseppina drückte mit ihrer kleinen Faust auf den kreisrunden Schalter der Leselampe und blätterte durch ein Bilderbuch, das ihr die blonde Frau gegeben hatte. Es waren Pferde darin, große und kleine, und es gab sie in allen Farben. Zu Hause hatten sie ein Pony gehabt, es hieß Jakob. Guiseppina fand ein Pony in dem Buch, das fast so aussah wie Jakob. Die Frau kam herein und sagte, es wäre jetzt Abendbrotzeit, sie solle doch mit ins Esszimmer kommen. Giuseppina schüttelte den Kopf. Sie war jetzt schon seit zwei Monaten hier. Sie hoffte jeden Tag, aber jeder Tag verging, ohne dass ihr Vater kam und sie nach Hause holte. Ihre Schwester sagte, er sei traurig, weil ihre Mutter tot war. Und sie müssten sich jetzt an das neue Leben gewöhnen.

 

***

 

«Mattheo, überleg doch mal. Es wäre ein neues Leben für euch. Wann sprichst du endlich Klartext mit Kristina? Was hast du schon zu verlieren? Deine Schweine kosten dich auf Dauer mehr als du einnehmen kannst und Kristina wird dich noch sitzenlassen. Nur, weil du so ein Hosenscheißer bist.»

   Mattheo legte die Speisekarte weg und winkte dem Kellner. Martin hatte recht, das wusste er. Aber er fürchtete sich davor, Kristina zu erzählen, was er alles in seinem Kopf ausbrütete. Weil es dann Realität werden könnte, und weil es dann kein Zurück mehr gäbe. Es wäre wie eine Kehrtwende aus voller Fahrt. Und da war auch noch sein Vater.

 

 ***

 

Am Samstag war An- und Abreisetag. Als nach dem Frühstück die letzten Gäste aufbrachen, übernahm er das Kassieren, damit Kristina nach oben gehen und die Zimmer für die neuen Gäste vorbereiten konnte. In seiner Stallkluft kam er sich dabei zwar reichlich deplatziert vor, aber die Gäste fanden es «charmant». Als er allein war, lud er die Wurst- und Käsereste auf einen Teller, legte die drei verbliebenen Cocktailtomaten und ein Petersilienblatt darauf und stellte alles in den Kühlschrank hinter der Bar. Er musste wieder raus, ein Lieferwagen rollte gerade hupend durch die Hofeinfahrt

 

***

 

Links hinten fehlte ein Rad, weshalb Giuseppina den Puppenwagen nur waagerecht halten konnte, indem sie den linken Griff etwas anhob und festhielt. So schob sie die einäugige Sissi mit der Borstenfrisur durch den Garten. Die alte Puppe, die früher einmal ihrer Mutter gehört hatte, hatte sie von zu Hause mitgebracht. Früher mochte sie die neuen Spielzeuge lieber, aber seit sie mit ihrer Schwester im Kinderdorf wohnte, war Sissi ihre ständige Begleiterin.

 

***

 

Als Mattheo den Schuppen absperrte, hörte er hinter sich Schritte. Er drehte sich betont langsam um und sah, wie Kristina mit federnden Schritten auf ihn zukam. Es war ein anstrengender Tag gewesen, aber das Erfolgserlebnis mit den neuen Zimmergästen hatte sie in Hochstimmung versetzt.

   «Na, wollen wir langsam Feierabend machen?», fragte Kristina, als sie vor ihm stand und ihm lächelnd den garnierten Resteteller vom Vormittag hinhielt. «Oder möchtest du mir noch etwas zeigen?» Sie deutete mit dem Kopf auf das Vorhängeschloss.

    Mattheo erschrak. «Was meinst du?» Er war nicht vorbereitet, er wollte alles nochmals durchdenken, bevor ... Warum wusste sie ... Er löste sich von ihr und sah nervös auf den Boden, als suchte er etwas. Dann gab er sich einen Ruck, sperrte wortlos auf und ließ sie eintreten.

 

***

 

Kristina hob die Brauen, als sie sah, dass eine Ecke des Schuppens zu einer Art Büro umfunktioniert war. Mattheo beobachtete mit angespannter Miene, wir ihr Blick über den Schreibtisch glitt. Hier hatte er viele Stunden und Tage verbracht, um sich eine mögliche Zukunft auszumalen. Dann sah er, wie sie abrupt innehielt. Sein Herzschlag beschleunigte sich.

    Kristina sah ihn an. «Was ist in dem Aktenkoffer?»

 

***

 

Die Eintrittskarten waren bunt und glitzerten. «Was hältst du von einem kleinen Ausflug, kleine Giuseppina?», fragte die blonde Frau und legte ihr eine Karte hin. Giuseppina lächelte. Sie mochte die Frau, sie hatte freundliche Augen und eine schöne Stimme. Sie durfte Laura zu ihr sagen.

   «Diese Woche ist Jahrmarkt, da gibt es Ponys. Du kommst doch mit?»

   «Echte Ponys? So wie Jakob?»

 

***

 

Mattheo hielt unwillkürlich die Luft an, als Kristina die Unterlagen wieder in den Koffer legte und sich auf dem Bürostuhl zu ihm umdrehte.

   «Ist das dein Ernst? Sie sprach sehr leise. «Was ist mit der Schweinemast und all den Investitionen? Und warum lässt du mich aussen vor? Du hättest mit mir reden können, bevor du alles über den Haufen wirfst.»

  Mattheo senkte den Blick. «Allein schaff ich das nicht. Ich hab gehofft, dass du mir hilfst.»

 

Kristina kniff die Augen zusammen. «Ich muss jetzt erstmal raus hier.»

 

 

[...]