Schwester, erbarme dich

Der Vater war abgereist. Giuseppina und Maria standen in ihren dünnen Mäntelchen im Klosterhof und hielten sich an den Händen. Sie zitterten vor Kälte und Angst. Maria fand die Sprache als erste wieder. Ihr Vater würde zurückkommen, und er würde sie mit nach Hause nehmen, sobald er alles geordnet hätte. Er hatte es versprochen. Giuseppina glaubte ihrer Schwester, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Hier, wo sie vom Vater Abschied genommen hatten, würden die Mädchen noch viele Male stehen und nach ihm Ausschau halten.

 

***

 

Was ist eigentlich hinter dieser Wand hier? Ich kann nicht reinschauen, aber da ist etwas. Es gibt keine Tür, aber ich weiß, dahinter muss ein Raum sein. Ich schreite die Seiten ab. Ein Meter, zwei Meter, drei Meter. Ein Meter. Wie ein Sarg. Aber viel höher. Ich frag den Hausmeister. Er soll mir Pläne zeigen. Morgen. Vielleicht. Jetzt muss ich weiterwischen, die Schwester Oberin schaut schon bös. Ich hör sie schon schimpfen; Giuseppina, schnüffle nicht rum, mach deine Arbeit.

 

Der Hausmeister sagt, das war einmal ein Brunnenschacht. Den hat man zugemauert. Ob man da wohl nachschauen könnte, hab ich ihn gefragt. Das fand er nur zum Lachen. Die Leute sagen, dass darin ein Mädchen ertränkt wurde. Damals. Es sei krank gewesen und den alten Schwestern lästig geworden nach der dritten Lungenentzündung. Diese feuchte Kälte hinter den Klostermauern war nichts für uns Kinder. Und während die Bomben fielen, war es nicht ungewöhnlich, dass Kinder verschwanden. Den Behörden haben sie erzählt, sie sei weggelaufen. Wer sowas glaubt. Wischen, schnell wischen. Mir kommen ja die Tränen. Und alles ist so still. Im Brunnen ist es noch stiller.

 

 

[Passage Giuseppina als Kind]

 

 

Der Aushub ist gemacht. Steine. Geröll, Staub. Da findet doch niemand was. Wenn ich nur was sehen könnte, aber ich darf nicht in die Nähe der Männer. Hab auch so schon genug Ärger. Überall Staub, wie im Nebel. Es gibt Briefe von den Eltern, die liegen im Klosterarchiv. Da muss ich unbedingt hin. Sie werden es nicht erlauben, aber mir fällt schon was ein.

 

 

[Passage Giuseppina als Kind]