Zwei Leben – Kurzgeschichte, «Romänchen»

Er ist 67 Jahre alt und er weint, wie er noch nie in seinem Leben geweint hat. Er bekommt kaum Luft, glaubt, er müsse ersticken. Mehr denn je empfindet er das Leben als ein sinnloses Spiel, das man nicht gewinnen kann. Warum wollten sie ihn nicht zu ihm lassen? Warum wusste niemand, wie ernst es war? Nun ist sein Bruder tot. Der Ältere, der ihn immer verstanden hat. Der ihn verstanden hat, weil sie aus demselben Holz geschnitzt waren. Dem Holz, aus dem Bauernbuben damals eben waren. Bei allem, was sie zusammen unternahmen, herrschte ein stilles Einvernehmen zwischen ihnen. Er kann nicht aufhören zu weinen.

 

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Sie sitzt ihm gegenüber. Sie hatte am Küchentisch gewartet, bis auch er sich hingesetzt hatte. Wie anfangen, mit welchen Worten? Dann ist die Nachricht einfach aus ihr herausgeplatzt. Zuerst sah er sie an, als ob er den Sinn ihrer Worte nicht erfassen könne. Dann verzog sich sein Gesicht und wurde dunkelrot. Er schluchzte heftig. Wie zwischen Wellen, die über einem Ertrinkenden zusammenschlagen, stieß er Fragen hervor. Sie konnte ihm keine beantworten. Noch nie hat sie ihn so gesehen. Immer schien es, als könne ihn nichts erschüttern. Er war ein schweigsamer Mensch, auch in ihrer Ehe. Anfangs deutete sie das als Zurückhaltung und gab sich mit kleinen Gesten zufrieden. Sie hoffte, die Worte würden noch kommen. Später warf sie ihm vor, dass dem nicht so war; in immer kürzeren Abständen. Irgendwann ging ihr die Kraft dafür aus. Sie resignierte und lebte ihr eigenes Leben. Jetzt sieht sie ihn unverwandt an und weiß nicht, wie sie Trost für ihn aufbringen soll.

 

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Er macht sich Vorwürfe. Er hätte einfach ins Krankenhaus gehen sollen. Ohne darauf zu warten, dass es ihm jemand erlaubt. Wie sie den Kranken abgeschirmt hatten – zu viel Besuch, noch genügend Zeit, man könne sich ja abwechseln. Und überhaupt komme er ja bald wieder heim. Das alles hätte ihn nicht kümmern dürfen. Hätte er gewusst … Er hätte seinem Bruder dafür danken wollen, dass er immer zu ihm gehalten hat. Dass er nie verurteilt hat. Auch wenn das Gesicht des jüngeren Bruders wieder einmal zerschunden war vom letzten Sturz im Vollrausch. Ein Witz, ein freundliches Schulterklopfen, und das Thema war abgehandelt. Seine Frau aber verstand es, ihm bei solchen Gelegenheiten alle früheren sogenannten Vergehen und Versäumnisse wieder von Neuem aufzutischen. Als ob er sich das ausgesucht hätte. Ein Mensch wird geboren und sich selbst überlassen. In seiner Welt hatte niemand Zeit, sich um jedes Balg zu kümmern, das sich die Knie aufschürfte. Die Großen ziehen die Kleinen auf, so war das. Und dann schlägt man sich durch.

 

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Sie sieht ihn weiter an und fragt sich, wer der Mensch ist, der da vor ihr sitzt. Sie hat es schon lange aufgegeben, sich etwas von ihm zu wünschen; aber früher, da hat sie sich jeden Tag gewünscht, dass er einmal nach Hause kommt, ihr in die Augen sieht und sie in den Arm nimmt. Er konnte es nicht, tat geschäftig, wenn sie selbst es gelegentlich versuchte. Dennoch muss das alles in ihm angelegt sein. Wo war es nur all die Jahre, in denen sie ihre Kämpfe ausgefochten haben? An ihm schien alles abzuprallen. Manchmal erinnerte er sie an einen Käfer. Er kehrte ihr den gepanzerten Rücken zu und verschwand in seiner Mauerritze, wann immer sie ihn zur Rede stellte. Er nannte sie eine Furie. Einmal alle paar Jahre beteuerte er, er wolle sich zusammennehmen und weniger trinken – solange die Kinder klein waren, dann hörte auch das auf. Verzeihen konnte sie ihm nicht. Schon möglich, dass sie zur Furie wurde.

 

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Er lässt den Kopf hängen und sieht seinen Tränen zu, die unaufhörlich auf den Tisch tropfen und eine kleine Lache um seine Hände herum bilden; die daliegen wie ein Fremdkörper, ineinander verschränkt, die Knöchel weiß vor Verkrampfung. Er hat seinen Freund verloren. Sein ältester Bruder, kaum älter als er selbst, ist tot. Jedes Mal, wenn er zurückkehrt zu diesem Gedanken, explodiert von Neuem etwas in ihm. Er hat dem nichts entgegenzusetzen. Sein Körper ist dabei, alles hinauszuwerfen, was sich an Kümmernissen in seinen dunklen Winkeln eingenistet hat. Plötzlich weiß er wieder, wie es sich damals angefühlt hat. Er war kaum erwachsen, als seine Mutter starb. Er hätte sie so dringend gebraucht. Ihren Rat, ihre Güte. Sie machte niemals Vorwürfe. Sie machte Vorschläge und stellte Fragen. Und das so klug und vorausschauend, als hätte sie schon dutzende Leben gelebt. Es war, als wäre seine Mutter nur hier gewesen, um allen, die um sie herum noch in den Kinderschuhen steckten, Hilfestellung zu geben. Für ihn hat die Zeit nicht gereicht. Er musste sich selbst helfen.

 

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Sie hat das Bild vor Augen, wie er jedes Mal abwinkte und wegging, wenn sie sich über ihn beklagte, ihn anschrie oder heulte. Wie er stumm in den Teller blickte, wenn sie damit drohte, ihre Sachen zu packen und zu gehen. Dann konnte sie seine Gedanken lesen: Wo willst du denn hin? – Er glaubte ihr nicht mehr. Und sie sagte sich, sie warte doch nur auf die nächste Gelegenheit. Bis die Kinder etwas größer wären; dann, bis sie etwas Geld gespart hätte; dann, bis er genug von ihr hätte und seinerseits gehen würde. Und dann, bis ihre Tochter gesund werden würde.

 

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Er wehrt sich gegen die Erinnerung, die sich ungefragt Raum verschafft. Er denkt an die Vorwürfe, es würde ihn nicht kümmern, an die Diskussionen, die sich im Kreis drehten. An die eigene Verzweiflung. Er realisierte damals, dass sein Leben trotz allem eine Art von Gefüge hatte. Dass er es gerne lebte und dass es Menschen gab, mit denen er sich verbunden fühlte. Zum ersten Mal war ihm aufgegangen, dass das Leben, das er in seiner Vorstellung hätte führen können, in Wirklichkeit nichts für ihn war. Er hatte hier zu tun. Er besuchte seine Tochter im Krankenhaus. Rena war schwach, aber immer, wenn er ins Zimmer kam, lächelte sie ihn an. In ihrem Lächeln lag so viel Wärme und er fragte sich, wie das sein konnte. Der Gesunde hätte die Kranke ermutigen müssen, nicht umgekehrt. Sie besprachen die letzten Neuigkeiten, was die Krankheit betraf, den Rest der Zeit schwiegen sie und schauten zum Fenster hinaus. Bei gutem Wetter wanderte sein Blick weit über die Stadt hinaus. Irgendwann sah er Rena ins Gesicht und erkannte mit einem Mal, dass etwas von seiner Mutter in ihr war. Er schaute sie lange an, es war ihm noch nie aufgefallen. Eine tiefe Demut vor dem Leben ergriff ihn; Rena verstand ihn – sie hatte ihn schon immer verstanden, das spürte er in diesem Augenblick.

 

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Sie denkt unwillkürlich daran, wie er die Nachricht von Renas Erkrankung aufgenommen hat. Wie alles andere auch. Es schien ihn nichts anzugehen. Dass er sie jeden Tag besucht hat, hat dann alle überrascht, nur Rena nicht. Sie sagte, es fühle sich ganz selbstverständlich an. Sie sagte, sie würden kaum reden und doch sei es so, als ob sie sich verstünden. Damals war ihr das zu mystisch. Heute sitzt sie ihrem Mann gegenüber, den sie nicht zu kennen scheint; und etwas verändert sich in diesen Minuten.

 

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Er weint jetzt leise, die Erschütterungen nur von einem Wimmern begleitet. Er ist erschöpft. Er fragt sich, was sie wohl denkt. Er hat erst einmal vor ihr geweint. Das war an dem Tag, als er sie anflehte, nicht fortzugehen – damals waren die Kinder klein, er hatte eine unbändige Angst davor, dass er alles verlieren würde. Er konnte sie umstimmen. Sie waren beide jung und sie hatten noch die Hoffnung, es zu schaffen. Eine Zeitlang ging es gut; bis die Lokalrunden wieder zur Gewohnheit wurden. Die Versuchung wirkte wie ein Magnet auf ihn. Dieses Bild in ihm, es ist ihm grausam vertraut: Rena mit sieben Jahren, sie klammert sich an sein Bein. Er steht zwischen Tür und Angel und sie bettelt, er solle doch zu Hause bleiben. Das war einer dieser Samstage, an denen sie alle wussten, dass er nicht so bald zurückkommen würde, wenn er erstmal aus der Tür war.

 

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Dass Rena nicht mehr da ist, damit kämpft sie jeden Tag. Nun weiß sie, dass auch ihr Mann das tut. Sie erkennt, dass er jetzt all die Tränen weint, die er damals nicht hatte. Er ging anders damit um, blieb stumm, sie klagte ihn an deswegen. Jetzt ist nur noch Verwunderung übrig. Über ihn, über sich selbst, über diese zwei Leben. Sie fühlt, dass etwas in ihr an Gewicht verliert, bedeutungslos wird. Jenes Warum, auf das niemand eine Antwort hat, löst sich auf. Gleichzeitig fühlt sie etwas in sich klarwerden. Und als ob, ganz kurz nur, ein Schleier gelüftet worden wäre, erhascht sie einen Blick darauf: Es gibt nichts zu verzeihen, nichts zu hinterfragen, weil alles sein muss.

 

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Er wird ruhiger. Er denkt an Renas Worte, die ihn damals nicht erreichen konnten. Er solle sie loslassen, ihr werde es gut gehen. Die Prüfung gelte jenen, die zurückbleiben. Vielleicht ist das so, er weiß es nicht. Aber als Prüfung empfindet er es tatsächlich immer wieder, dieses Zurückbleiben. Er weiß, was als Nächstes kommt. Die Leute werden bestürzt sein, sich kümmern, nachfragen, wie es geht; und nach ein paar Wochen werden sie es vergessen. Er versteht das sogar. Es ist wegen dieser leeren Stelle, die nur er hat. Aber alle Tränen sind aufgebraucht, er muss weitermachen. Er muss versuchen, Frieden zu schließen; mit sich selbst, mit seiner Ehe, mit seinen Verlusten. Die bärtigen Wangen trocknen allmählich, der Tumult in ihm legt sich. Er hebt seinen Kopf. Seine Frau sitzt immer noch da. Er sieht ihr lange in die Augen.